Mit dieser Zusammenstellung wollen das European Prison Litigation Network (Europäisches Netzwerk für Strafvollzugsprozesse), seine Mitglieder und Partner nationale Anwälte und zivilgesellschaftliche Organisationen über die wichtigsten rechtlichen Entwicklungen im Bereich des Strafvollzugs in Europa informieren.
Die Zusammenstellung umfasst 14 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die Ukraine, Moldau, das Vereinigte Königreich und Russland.
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AUSLIEFERUNG
In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht das Verfahren zur Übergabe eines Häftlings an die Türkei mit der Begründung ausgesetzt, dass das Gericht die Gefahr eines Selbstmordes während der Überstellung oder während der Haft in der Türkei nicht ausreichend berücksichtigt habe.
In der Ukraine wirft die Verabschiedung eines Gesetzes, in dem die Gefängnisse aufgeführt sind, in denen ausgelieferte Häftlinge untergebracht werden müssen, die Frage der Diskriminierung aufgrund des Status der Häftlinge auf.
GESUNDHEIT
In Bulgarien entschied ein Verwaltungsgericht, dass der innerstaatliche vorbeugende Rechtsbehelf nicht zur Erlangung einer vorübergehenden Strafaussetzung genutzt werden kann. Letztere kann nur von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden.
In Deutschland ordnete das Bundesverfassungsgericht an, dass die Gefängnisverwaltung einem Gefangenen als vorläufige Maßnahme eine Opiatsubstitutionstherapie für sechs Monate zukommen lassen muss.
In Italien lehnte der Kassationsgerichtshof den Antrag eines im Hungerstreik befindlichen Gefangenen auf eine vorübergehende Aussetzung der Vollstreckung seiner Strafe mit der Begründung ab, dass die Verschlechterung seines Gesundheitszustands auf seine eigene Entscheidung, den Hungerstreik fortzusetzen, zurückzuführen sei.
In der Republik Moldau aktualisiert das Justizministerium derzeit die Vorschriften zur Erleichterung der vorzeitigen Entlassung schwerkranker Häftlinge und arbeitet daran, diese Möglichkeit auch auf Untersuchungshäftlinge auszuweiten.
In Polen ist die Strafvollzugsverwaltung ein Jahr nach einer Reform, mit der die Möglichkeit eingeführt wurde, dass Gefangene medizinische Fernleistungen in Anspruch nehmen können, nicht in der Lage, diese umzusetzen.
Ebenfalls in Polen stellt der Nationale Präventionsmechanismus den Standpunkt der Strafvollzugsverwaltung in Frage, dass ihre Bediensteten ohne vorherige schriftliche Zustimmung der Gefangenen keinen Zugang zu deren medizinischen Dokumentation haben.
Im Vereinigten Königreich veröffentlichte das Inspectorate of Prisons (Gefängnisinspektion) einen Bericht, in dem mehrere Mängel bei der Verlegung akut psychisch kranker Gefangener in Krankenhäuser festgestellt wurden.
ZWANGSMITTEL
In Österreich ordnet ein Erlass des Justizministeriums an, dass alle Gefangenen, die aus dem Gefängnis eskortiert werden, mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt oder mit Fesselgurten ausgestattet werden müssen.
In Spanien zeigen zwei kürzlich veröffentlichte Berichte der katalanischen Ombudsfrau und der Beobachtungsstelle für Strafvollzug und Menschenrechte der Universität Barcelona, dass die Anwendung mechanischer Zwangsmittel aus medizinischen und nicht-medizinischen Gründen in Katalonien erheblich zugenommen hat. In den von der nationalen Gefängnisverwaltung betriebenen Gefängnissen ist dieser Einsatz dagegen zurückgegangen.
INTERNETZUGANG
In Portugal kündigte das Justizministerium ein Pilotprojekt an, das Häftlingen in drei prortugiesischen Gefängnissen einen begrenzten Zugang zum Internet ermöglicht.
In der Ukraine dürfen Gefangene die Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und dessen elektronischen Kommunikationsdienst konsultieren. Neue Vorschriften schränken jedoch den bezahlten Internetzugang für Gefangene ein, die eine Disziplinarstrafe in Form von Einzelhaft verbüßen oder gegen die ein Verbot der Kommunikation mit der Außenwelt verhängt wurde.
LEBENSLANGE HAFT
In der Republik Moldau organisierte das Justizministerium einen Workshop über lebenslange Haftstrafen, um lebenslänglich Verurteilten den Zugang zu einer Freilassung zu erleichtern.
In Polen forderte der Menschenrechtskommissar das Justizministerium auf, die von der Vorgängerregierung eingeführte Möglichkeit abzuschaffen, Häftlinge zu lebenslänglichen Haftstrafen ohne die Möglichkeit der Bewährung zu verurteilen. Er äußerte auch seine Besorgnis über die jüngsten Änderungen, die rückwirkend die Voraussetzungen für eine bedingte Freilassung von Gefangenen ändern, die bis zum Tag des Inkrafttretens der Reform rechtskräftig verurteilt wurden.
In der Ukraine erklärte das Verfassungsgericht eine Beschwerde gegen den neuen Mechanismus zur Überprüfung von lebenslangen Haftstrafen für unzulässig. In der Beschwerde wurde argumentiert, dass lebenslängliche Verurteilte diskriminiert werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Mechanismus bereits mehr als 15 Jahre verbüßt hatten.
MATERIELLE HAFTBEDINGUNGEN
In Belgien haben die französisch- und deutschsprachige Anwaltskammer und die Liga für Menschenrechte im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juni 2024 Memoranden veröffentlicht. Beide Organisationen schlagen strukturelle Lösungen zur Verbesserung der Haftbedingungen und der Überbelegung der Gefängnisse vor.
In Bulgarien hat ein Verwaltungsgericht die Definition von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung weit gefasst und festgestellt, dass das Versäumnis der Gefängnisverwaltung, die Bettwäsche und die persönliche Unterwäsche der Gefangenen mindestens einmal pro Woche zu wechseln, in diese Kategorie fällt.
In der Tschechischen Republik wurde das ursprünglich für Januar 2024 vorgesehene Inkrafttreten eines Dekrets zur Erhöhung des persönlichen Mindestraums pro Häftling auf Januar 2027 verschoben.
Der Fall einer in Ungarn inhaftierten italienischen Staatsbürgerin hat die Aufmerksamkeit auf die dortigen Haftbedingungen gelenkt. Sie wurden Gegenstand von Diskussionen im Europäischen Parlament.
In Italien wich ein Urteil über die Haftbedingungen von dem allgemeinen Ansatz der nationalen Gerichte ab, indem nicht nur der persönliche Raum, der den Gefangenen zur Verfügung steht, sondern auch der allgemeine Hygienestandard der Einrichtung berücksichtigt wurde.
In der Republik Moldau ergab eine von der Vereinigung Promo-LEX durchgeführte Untersuchung der Haftbedingungen im Gefängnis von Chișinău, dass die tatsächliche Kapazität des Gefängnisses weit unter der offiziellen Kapazität liegt, was zu mehr Überbelegung führte.
In Polen machte der Menschenrechtskommissar die Behörden auf den schlechten Zustand der Arrestzellen aufmerksam, in denen neu aufgenommene Gefangene bei ihrer Ankunft vorübergehend untergebracht werden.
In Rumänien entschied der Oberste Gerichtshof, dass Schadenersatzansprüche für immaterielle Schäden aufgrund unzureichender Haftbedingungen an den rumänischen Staat und nicht an die Gefängnisverwaltung zu richten sind.
In der Ukraine ordnete das Justizministerium an, das Inkrafttreten von Änderungen, die den Zugang von Häftlingen zu Toiletten verdoppeln, um ein Jahr bis Januar 2025 zu verschieben.
NRO
In Russland schrumpft der zivilgesellschaftliche Raum weiter: Die Behörden erklärten die Organisation Anarchist Black Cross für “unerwünscht” und verurteilten Oleg Orlov, einen prominenten Menschenrechtsaktivisten und Ko-Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Memorial, zu zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug.
STRAFRECHT
In Belgien wurden ein neues Strafrecht und eine vollständige Überarbeitung des Strafgesetzbuches verabschiedet. Während das Strafgesetzbuch nun die Haft als letztes Mittel definiert, wird durch die Reformen die Untersuchungshaft ausgeweitet, neue Straftatbestände geschaffen und das Strafmaß für bestimmte Straftaten erhöht. Die deutsch- und französischsprachige Anwaltskammer und die Liga für Menschenrechte haben diese Maßnahmen kritisiert, da sie die Gefahr bergen, dass sich die ohnehin schon starke Überbelegung der Gefängnisse noch verschlimmert.
In Griechenland werden die umfassenden Reformen des kürzlich verabschiedeten Strafgesetzbuchs (2019, geändert 2021 und 2022) erhebliche Auswirkungen auf die Rechte der Gefangenen und die Haftbedingungen haben. Unter anderem werden die Reformen die Länge der Haftstrafen erhöhen, die Möglichkeit der Aussetzung von Freiheitsstrafen und der Gewährung von Bewährung einschränken, die Anwendung der Untersuchungshaft ausweiten und die Jugendgerichtsbarkeit verschärfen.
In Spanien hat die katalanische Regierung eine Zweijahresstrategie zur Förderung von Alternativen zur Inhaftierung und zum offenen Vollzug verabschiedet.
UNTERSUCHUNGSHAFT
In Polen hat das Justizministerium das Problem des Missbrauchs der Untersuchungshaft eingeräumt und angekündigt, dass an einer Änderung der Kriterien für die Anordnung von Untersuchungshaft gearbeitet wird.
GEFÄNGNISPERSONAL
In Frankreich ist eine Reform zur Änderung des Status von Gefängniswärtern in Kraft getreten. Mit der Reform werden insbesondere die Diplomanforderungen für Gefängniswärter angehoben und ihre Gehälter erhöht.
GEFÄNGNISSE IN KRIEGSZEITEN
In der Ukraine wurde der Leiter einer Strafkolonie in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er den russischen Besatzungstruppen gestattet hatte, einen Teil der von ihm geleiteten Einrichtung sowie die Arbeitskraft der Gefangenen zu nutzen.
Ebenfalls in der Ukraine sieht ein neues Gesetz vor, dass Häftlinge, die ihre Strafe nicht vollständig verbüßt haben, weil sie unfreiwillig nach Russland überstellt wurden, den Rest ihrer Strafe nach ihrer Rückkehr in die Ukraine verbüßen müssen.
PRIVAT- UND FAMILIENLEBEN
In der Tschechischen Republik vereinheitlicht ein neues Gesetz die Regeln, nach denen die Gefängnisverwaltung die Einkünfte der Gefangenen verwalten muss. Es garantiert insbesondere, dass ein Teil der Einkünfte der Gefangenen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse (Gesundheit, Hygiene, Ernährung) verwendet werden muss.
In Ungarn berichteten Angehörige von Gefangenen von einer positiven Veränderung der Besuchsregelungen, bei denen deckenhohe, transparente Trennwände durch 20-50 cm hohe Trennwände ersetzt wurden, die einen begrenzten Körperkontakt zu Beginn und am Ende der Besuche ermöglichen.
In Italien erkannte das Verfassungsgericht das Recht der Gefangenen auf Zuneigung an und entschied, dass die Gefangenen die Möglichkeit haben müssen, ihren Ehepartner oder Partner ohne Überwachung durch die Gefängnisverwaltung zu treffen. Es betonte, dass die Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen für die psychische Gesundheit der Gefangenen von wesentlicher Bedeutung ist und dass sie mit der körperlichen Gesundheit den Kern der Menschenwürde darstellt.
In der Republik Moldau zielt eine kürzlich durchgeführte Reform des Strafvollzugsgesetzes darauf ab, kurz- und langfristige Besuche zu erleichtern. Die Reform verbessert auch den Schutz von Gefangenen vor Selbstverletzung und stärkt ihr Beschwerderecht.
In Polen hat die neue Regierung die von ihren Vorgängern vorgenommenen Änderungen rückgängig gemacht, wonach die Gefangenen mindestens zweimal pro Woche mit ihren Familien telefonieren dürfen.
Ebenfalls in Polen hat der Menschenrechtskommissar das Justizministerium auf die Situation von Gefangenen aufmerksam gemacht, die ihre Strafe weit entfernt von ihrer Familie verbüßen – ein Phänomen, das unverhältnismäßig viele Frauen im Gefängnis betrifft.
In Russland haben eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs und neuere Gesetze den Kontakt der Gefangenen mit der Außenwelt weiter eingeschränkt, indem sie den Gefangenen die Verwendung von tragbaren Funkempfängern verbieten und die Weitergabe von Mobiltelefonen oder anderen Kommunikationsmitteln an Gefangene unter Strafe stellen.
In der Ukraine erklärte das Verfassungsgericht Teile des Strafvollzugsgesetzes für verfassungswidrig, die lebenslänglich Verurteilten das Recht verwehren, vorübergehend Ausgang zu erhalten, um einen schwerkranken Verwandten zu besuchen oder an dessen Beerdigung teilzunehmen.
VERFAHRENSRECHT
In Frankreich entschied ein Verwaltungsgericht, dass das Recht eines Gefangenen, persönlich an einer Anhörung teilzunehmen, ein Bestandteil seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist. Dem Kläger, der gegen seine Unterbringung in Einzelhaft klagte, war es aus Sicherheitsgründen nicht gestattet worden, persönlich an seiner Anhörung teilzunehmen.
HAFTREGIME
In Ungarn wurden in einem kürzlich verabschiedeten Ministerialerlass die Regeln für das neue Belohnungs-Bestrafungs-Punktesystem festgelegt, das die Haftbedingungen der Gefangenen bestimmen soll.
In Litauen wurde durch eine Anordnung der Strafvollzugsbehörde die obligatorische elektronische Überwachung von Häftlingen eingeführt, die in eine Resozialisierungseinrichtung verlegt werden, und zwar für mindestens einen Monat ab dem Zeitpunkt ihrer Verlegung.
WIEDEREINGLIEDERUNG
In Russland ist ein neues Bewährungsgesetz in Kraft getreten, das verschiedene Maßnahmen zur Erleichterung der Wiedereingliederung von Häftlingen vorsieht. Experten haben die Unbestimmtheit des Gesetzes kritisiert, das dem derzeitigen Rahmen wenig Neues hinzufügt und die Tatsache nicht berücksichtigt, dass Gefangene massiv rekrutiert wurden, um am Militärkonflikt in der Ukraine teilzunehmen.
RECHTSBEHELFE
In Bulgarien zeigt die jüngste Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in Fällen, in denen es um den Vorwurf unmenschlicher und erniedrigender Behandlung geht, Diskrepanzen in Bezug auf die Erstattung der der Gefängnisverwaltung entstandenen Prozesskosten: Letztere sollen von den Gefangenen getragen werden, wenn sie den Prozess verloren haben. Dies schafft Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Anwendung von präventiven und entschädigenden Rechtsmitteln in Gefängnisangelegenheiten.
RECHT AUF LEBEN
In Russland deuten der brutale Tod mehrerer prominenter Persönlichkeiten im Gefängnis, darunter Alexei Nawalny, und jüngste statistische Daten auf zahlreiche Verstöße gegen das Recht der Gefangenen auf Leben hin.
STRAFENANPASSUNG
In Portugal hat ein Berufungsgericht entschieden, dass Begnadigungsmaßnahmen bei der Berechnung der Dauer der verbüßten Strafe als Kriterium für die Berechtigung eines Häftlings zu einer Strafanpassung berücksichtigt werden müssen.
Im Vereinigten Königreich entscheid der High Court, dass eine Gesetzesreform, die Kindern, die wegen Mordes verurteilt wurden und das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Möglichkeit nimmt, ihre Strafe aufgrund außergewöhnlicher Fortschritte zu reduzieren, nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist.
ÜBERSTELLUNG
In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht den Rechtsschutz von Gefangenen im Falle einer Überstellung erhöht. In dem Fall ging es um einen Gefangenen, der erst kurz vor seiner Verlegung von dieser erfuhr, obwohl sie bereits sieben Wochen zuvor beschlossen worden war.
GEFÄNGNISARBEIT
In Deutschland wurden die Hauptergebnisse des von einer Arbeitsgruppe über Gefängnisarbeit veröffentlichten Berichts mitgeteilt. Der Bericht sieht eine Anhebung des Entgelts auf 15 % des Durchschnittslohns im Land und die Änderung des Systems der nichtmonetären Entschädigung (eine Strafminderung von bis zu 12 Tagen für jedes Arbeitsjahr) vor.
In Italien entschied ein Arbeitsgericht, dass ehemalige Strafgefangene Anspruch auf Arbeitslosengeld für im Gefängnis geleistete Arbeit haben, unabhängig davon, ob sie bei einem privaten Unternehmen oder der Gefängnisverwaltung beschäftigt sind.
In Spanien wies ein Bericht der katalanischen Ombudsfrau auf die zahlreichen Mängel bei der Organisation der Gefängnisarbeit in der Region hin (von der niedrigen Beschäftigungsquote, insbesondere bei weiblichen Gefangenen, bis hin zu niedrigen Löhnen und einer fehlenden Arbeitnehmervertretung).
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